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Orchesterbesetzung

3.3.3.6.asx.barsx-4.3.3.1-perc(3-4)-harp-pft-sampler(=cel)-strings

Abkürzungsverzeichnis (PDF)

Verlag:

B&B

Vertriebsgebiet
Dieses Werk ist erhältlich bei Boosey & Hawkes in der ganzen Welt.

Verfügbarkeit

Uraufführung
10/11/2023
Herkulessaal, München
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks / Johannes Kalitzke
Anmerkungen des Komponisten

Zeitkapseln befinden sich häufig in Dachstühlen oder Fundamenten alter Gebäude und werden oft erst nach langer Zeit, meist Jahrhunderten, wiedergefunden. Sie enthalten Gegenstände oder Schriften, die Zeugnis geben von der Zeit ihrer Versiegelung – Vermächtnisse, die uns eine Zeitreise zu längst vergessenen kulturellen Errungenschaften ermöglichen. Oft wirken sie dabei wie eine getrocknete Saat von Hoffnung in unseren dämonischen, von Bellizismus und Polarisierung geprägten Zeiten; sie stehen hier für den Wert vergangener geistiger Reichtümer, ohne dessen Verinnerlichung sich Geschichte mit all ihren Vorzeichen ziviler Selbstzerstörung nicht anders kann als sich zu wiederholen.

In der gegenwärtig zunehmenden Geschichts- und Erinnerungsvergessenheit unserer Gesellschaften kam mir dabei das Bild des mittelalterlichen Totentanzes in den Sinn, wo Lebende und Tote Seite an Seite einherschreiten, äußerlicher Reichtum und verrinnende Zeit sich ineinander spiegelnd, wo der Verweis auf ein ausgleichendes Jenseits sich mit der opulent dekorierten Indolenz der dargestellten Wohlstandsbürger auf Erden die Waage hält. Diese Dualität von Zeit und Raum im Totentanz findet sich auch in der Zeitkapsel wieder – sie entspricht dem Ereignis ihres Auffindens, wo eine unerreichbare, fremde Zeit im Mantel ihrer intimen Materialität jählings vor unseren Augen wieder gegenwärtig wird.

Stellvertretend für Zeitkapseln im materiellen Sinne stehen in diesem Orchesterstück musikalische Fundstücke aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen, die spät wiederentdeckt wurden und den klanglichen Kontext des Stückes prägen – allem voran die erste akustische Aufnahme in der Geschichte überhaupt: „Au Claire de la lune“ von 1860, eine Aufzeichnung von Schallwellen auf Wachspapier. Fragmente davon erklingen am Ende des Stückes, wie eine Enthüllung.
Auch Geräusche alter Fabrikhallen, Sprachfetzen aus verrauschten Originalaufnahmen (einmal auch ganz kurz James Joyce aus einer Originallesung), Morphings von Renaissancemusik-Fragmenten mit dem Echo eines Muezzins, um einige Beispiele zu nennen, geraten als elektronisch vorproduzierte Bruchstücke wechselnder Zeiten und Räume zunehmend in den Sog einer stolpernden, dystopischen Akkumulation.

Die Form dieses Totentanzes mit ihren ausschließlich auf Dreiton-Rotationen beruhenden Intervallkonstellationen ähnelt derjenigen eines Concerto grosso. Das „Concertino“ wird von einer vergrößerten Fagottgruppe verkörpert, die wie ein Katalysator für die Abwärtsbewegung des „Ripieno“-Totentanzes die Entwicklung nach vorne treibt. Stilisierte altertümliche Tanztypen (Pavane, Gigue etc.) und ihre motivischen Elemente rücken nach und nach ineinander, nach dem strukturellen Muster der Anamorphose, einer perspektivischen Krümmung, die gleiche Phänomene in verschiedene Stadien der Verzerrung versetzt. Damit wird das Paradox angedeutet, dass Zeitkapseln in dem Moment, wo sie unkenntlich werden und im Hintergrund verschwinden, eine substanzielle Bedeutung gewinnen als Inseln der Poesie im Angesicht einer gestaltlosen Zukunft.
Johannes Kalitzke

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